Philosophie


Brunner (Berlin 1912)
Brunner (Berlin 1912)

I. Inhalte

 

In einer Theorie des “praktischen Verstandes” entwickelt Brunner eine Bewegungslehre, die Parallelen erkennen läßt zu Einsteins Relativitätstheorie und Husserls Phänomenologie (Dingbegriff, Raum- und Zeitauffassung, Bewegungsbegriff); sie ist aber unabhängig von beiden Konzeptionen entstanden und steht im weitesten Sinne im Kontext der psychologisch-, physiologisch- und physikalisch-philosophischen Diskussionen des späten 19. Jahrhunderts.

 

In seiner aus der Bewegungslehre abgeleiteten Psychologie leugnet Brunner die Möglichkeit eines erkennerischen “Verstehens” der Welt und geht (wie Spinoza) von einer Leib-Seele-Identität aus. Seine Philosophie ist daher ebenso gegen die Vernunftideologie der Aufklärung wie gegen den Dualismus Kants gerichtet und legt nicht nur die Einheit der psychischen Momente des Fühlens, Wissens und Wollens dar, sondern zeigt auch deren lebensfürsorgliche Zwecksetzung auf. Der praktische Verstand, das konkret alltägliche bis hinauf zum wissenschaftlichen Denken, hat damit rein biologische Bedeutung (allerdings nicht im Sinne einer genetischen Erkenntnistheorie; Brunner lehnt Darwins Entwicklungslehre ab). Der praktische Verstand dient unserer Interessenbefriedigung.

 

Dieser Punkt markiert den Übergang zur praktischen Philosophie, zur Gesellschafts- und Staatslehre, der sich Brunner ebenso ausführlich gewidmet hat. In theoretischer Ableitung aus seiner Psychologie und durch Exemplifizierung am Beispiel des Judenhasses, macht er die psychologischen Mechanismen kenntlich, zu denen sich das alle Menschen mehr oder weniger bestimmende Interessedenken auswächst. Die in den “Judenbüchern” entwickelte Hasstheorie will nicht nur die psychologische Basis des Antisemitismus erklären, sondern jede Form gesellschaftlicher Ausgrenzung von “anderen”.

 

In seiner demokratischen Staatstheorie kämpft Brunner für die Anerkennung Andersdenkender und Andersgearteter als gleichberechtigter Menschen. Ziel bleibt die individuelle Freiheit, die jedoch staatlich begrenzt werden muß: Anarchismus lehnt Brunner ab. Den auf Gleichmacherei und Kollektivismus ausgehenden Kommunismus bezeichnet er als einen ebensolchen “Freiheitswürger” wie den Faschismus. Die Befriedigung der ökonomischen Bedürfnisse ist zwar zu erstreben, aber Privatbesitz gehört zum Grundinteresse des Menschen, dem ebenso Rechnung getragen werden muss wie dem Geltungsinteresse (dem Ehrbedürfnis und der menschlichen Eitelkeit) und dem Liebesinteresse. Freuds Erostheorie hält Brunner für zu einseitig.

 

Die tatsächlichen Lebensverhältnisse in Staat und Gesellschaft sieht Brunner im allgemeinen durch Menschen eingerichtet, die irgendwelche praktischen Interessen verabsolutieren (“Aberglaube”). Zwar ist der aus den Interessen der Liebe, des Besitzes und der Ehre-Eitelkeit bestehende Egoismus dem Menschen natürlich, aber sein Zuviel, seine Verabsolutierung ist schädlich: sie endet in Hochmut und Gier und muss (durch richtiges Denken) vermieden werden.

 

Denken und Leben sind identisch. Einer der Hauptsätze von Brunners Philosophie lautet: “Was du nicht richtig denkst, das mußt du verkehrt leben.” Richtig denken bedeutet, die Gedanken nach der Wirklichkeit auszurichten, nicht umgekehrt.

 

Ideal erscheinen die gedanklichen Errungenschaften und lebendigen Vorbilder großer “Geistiger” (Brunner nennt unter anderem: Spinoza, Christus, Beethoven, Rembrandt, Moses, Sokrates), die nicht ihre Interessen verabsolutieren, sondern die “absolute Wahrheit” zu denken und zu leben in der Lage gewesen sind. In ihnen ist das Geistige nicht Utopie, sondern reale Gegenwart. “Absolute Wahrheit” ist für Brunner das Denken des Einen, Nicht-Relativen, nicht-metaphysischen Absoluten, Spinozas Deus sive Substantia.

 

Die Wirklichkeit hat somit zwei Dimensionen: Sie ist im Wesen das absolute, geistige Eine (absoluter Idealismus), in der Erscheinung das relative Viele bewegter Dinge (relativer Materialismus). Beiden Wirklichkeitsdimensionen entsprechen “Fakultäten” des menschlichen Denkens: Mit dem “geistigen Denken” erfasst der Mensch das absolute Eine (dies kann sich in künstlerischem oder philosophischem Denken äußern oder in mystischer Liebe), mit dem “praktischen Verstand” das relative Viele (indem er es fühlt, weiß und will). Neben diesen beiden spricht Brunner noch von einer dritten Denkfakultät: dem “Aberglauben”, in der Relatives nicht relativ, sondern absolut gedacht wird (es äußert sich in Religiösem, Metaphysischem und Moralischem), und wer so denkt, den bezeichnet Brunner als “Volk”.

 

Im tatsächlichen Leben denken die Menschen meist entweder durchweg geistig oder durchweg abergläubisch-volksmäßig –, das ist es, was Brunner konstatiert, und so nennt er seine Philosophie eine “Lehre von den Geistigen und vom Volk”. An einen historischen Fortschritt in Richtung auf das geistige Denken glaubt Brunner nicht und kritisiert hierin Hegel. Dennoch weist er auch den Pessimismus Schopenhauers zurück: Pessimismus und Optimismus sind Momente der praktischen Lebenserfahrung, sie gehören nicht in das philosophische Denken. Die Lebensfreude (auch hier folgt Brunner als eine Art Epikuräer Spinoza) ist das Ziel der philosophischen Lebensgestaltung, das allerdings nur für wenige erreichbar ist: für jene, die bereit sind, ihrem geistigen Wesen Dasein zu geben. Das “Volk” gelangt nicht dorthin, da es die Wahrheiten immer wieder abergläubisch verdreht und so das eigene Glück verfehlt. Unsere Charaktere sind unveränderlich. Die Menschen lassen sich nicht bessern, nur die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse können und müssen wir bessern.

 

Die Philosophie Brunners ist zum einen auf diese Besserung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet, zum anderen auf eine individuelle, das Leben ändernde Wirkung in Richtung auf das Geistige. Die Forderung: Philosophie darf den Philosophierenden nicht nur theoretisch beschäftigen, sondern muss ihn auch praktisch aktivieren, sah Brunner in der akademischen Philosophie nicht erfüllt. Und so ist seine Lehre gleichzeitig ein Kampf gegen Scheintiefe und Scheindenken, gegen eine letztlich nur belehrende, aber nicht das Leben bewegende allgemeine Bildung und einen Ästhetizismus. (Hier gibt es einige Parallelen zu Nietzsche, dessen Skeptizismus Brunner jedoch scharf angreift.)

 

II. Systematik

 

Brunner erstrebt eine einfache Systematik seiner Philosophie und eine geringe Anzahl terminologisch fixierter Begriffe.

 

Eigentlich wollte er nur ein Buch schreiben: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk, in drei Bände gegliedert: praktischer Verstand, Geist, Aberglaube (oder, wie Brunner für Aberglaube synonym auch oft sagt: Analogon). Erschienen ist in dieser systematischen Form nur der erste Band, und zwar unter dem Titel des ganzen Programms: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk –, ein Buch, in dem eine lange ›Ankündigung‹ auf das Ganze der Lehre hinweist, im übrigen aber als erster Teil nur die Theorie des praktischen Verstandes in zwei Halbbänden ausgeführt ist.

 

Wenn Brunner die weiteren Bände mit den Titeln »Geist« und »Analogon« nicht geschrieben hat, so bedeutet dies nicht, daß er es unterließ, diese Themen abzuhandeln. Beide Denkweisen erscheinen im Grunde in allen Werken einander gegenübergestellt, ja dies selbst schon im Buch über den praktischen Verstand selber. Das hat seinen Grund darin, dass es sich nach Brunner bei diesen drei Begriffen um die – einzig möglichen – drei Weisen des menschlichen Auffassens handelt (er nennt sie »Fakultäten«), von denen die eine, der praktische Verstand, jedem Menschen immer eigen ist, die anderen beiden, Geist und Analogon, sich aber nie zusammen finden, sondern der praktische Verstand ist immer mit einer der beiden anderen Auffassungsweisen verbunden: entweder mit dem Geist oder mit dem Analogon.

 

Dieses faktische so oder anders Verbundensein in den Menschen kennzeichnet Brunner mit den Begriffen: »Geistige« und »Volk«. Wer den praktischen Verstand auf dem Grunde des Geistes denkt, gehört zu den Geistigen, wer ihn auf dem Grunde des Analogon denkt, gehört dem Volk an. Und so entsteht einerseits eine Fakultätenlehre, die alle nur möglichen Wahrnehmungs-, Denk- und Seinsweisen umfassen will, andererseits eine anthropologische Lehre von den Geistigen und vom Volk, die für Brunner den Erklärungsgrund für alle tatsächlichen individuellen, gesellschaftlichen, politischen und historischen Befindlichkeiten bildet.

 

In seiner Fakultätenlehre unterscheidet Brunner innerhalb der drei Fakultäten noch jeweils drei Erscheinungsformen: im praktischen Verstand die psychologischen »Spezifikationen« Fühlen, Wissen, Wollen, im geistigen Denken Kunst, Philosophie, mystische Liebe, und im analogischen Denken Religion, Metaphysik, Moral. Diese neun sind die Kategorien, in die alles Denken und Fühlen, jede Art der Wahrnehmung und Spekulation, jede Seinsauffassung, alles Bewusstsein eingegliedert werden kann.

 

(Jürgen Stenzel)